Spinale Muskelatrophie

Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene erblich bedingte Erkrankung, die zu Muskelschwund, Atembeschwerden und Lähmungen führt. SMA beginnt meist schon im Säuglingsalter – und ist die am häufigsten tödlich verlaufende Erberkrankung bei Säuglingen. Neue Medikamente geben jedoch Anlass zur Hoffnung: Bei frühzeitigem Einsatz können sie ein Fortschreiten der Erkrankung stoppen.

Synonyme

SMA, proximale spinale Muskelatrophie, spinale Muskelatrophie 5q

Definition

Spinale Muskelatrophie

Was bedeutet SMA?

SMA ist eine Abkürzung, die häufig in medizinischen Fachtexten oder Befunden verwendet wird. Sie bezeichnet die Krankheit Spinale Muskelatrophie. Spinal steht dafür, dass Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn an der Erkrankung beteiligt sind. Atrophie bedeutet Schwund.

Was ist Spinale Muskelatrophie?

Bei der Spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich in den meisten Fällen um eine vererbbare Erkrankung, die durch genetische Veränderungen in der Region q des Chromosoms 5 verursacht wird. Die Krankheit wird deshalb auch als Spinale Muskelatrophie 5q bezeichnet. SMA wird autosomal-rezessiv vererbt. Das bedeutet, dass beide Eltern Träger des veränderten Gens sein müssen, damit Kinder daran erkranken können. Ursache von SMA ist eine Veränderung des SMN1-Gens (siehe Ursachen).

Die Erbgutveränderungen bei spinaler Muskelatrophie führen dazu, dass fortschreitend mehr sogenannte motorische Nervenzellen des Rückenmarks (Motoneuronen) absterben. Ohne die Motoneuronen können Nervenimpulse nicht mehr zu den Muskeln übertragen werden. Das hat Folgen. Die fehlende Belastung der Muskeln verursacht Muskelschwund (Atrophie) und Lähmungen. Meist sind die rumpfnahen (proximalen) Muskeln der Schulter, der Hüfte und des Rückens zuerst betroffen. Später breitet sich die Muskelatrophie sehr oft auf die Atemmuskulatur aus. Auch Kauen und Schlucken können durch die Erkrankung beeinträchtigt sein.

4 Formen der SMA

Genau genommen handelt es sich bei SMA um einen Überbegriff. Je nach Schweregrad der Beeinträchtigung und Zeitpunkt des Auftretens werden spinale Muskelatrophien vor allem in vier Formen unterteilt. Daneben gibt es noch sehr seltene Sonderformen, die nicht vererbt werden, sondern spontan entstehen (siehe Symptome).

Häufigkeit

Spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung. Die Diagnose SMA wird bei einem von 10.000 Neugeborenen gestellt. In Europa zählt SMA aber zu den häufigsten Erkrankungen mit autosomal-rezessivem Erbgang. Zudem ist SMA die häufigste vererbbare Todesursache bei Neugeborenen.

Symptome

Leitsymptome der Spinalen Muskelatrophie sind unterschiedlich stark ausgeprägter, fortschreitender Muskelschwund und eine dadurch bedingte Muskelschwäche. Je nach Form der Erkrankung existieren noch weitere charakteristische Merkmale, etwa:

  • Muskelzuckungen
  • Lähmungen
  • Seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule (Skoliose)
  • Atemprobleme, vor allem erhöhte Atemfrequenz (Tachypnoe) bei flacher Atmung

Welche Krankheitszeichen auftreten, hängt auch vom Verlauf der Erkrankung an. Am Beginn steht die Schwächung der Muskulatur in Rumpfnähe, besonders an den Beinen, im Vordergrund. Später entwickelt sich eine allgemeine Muskelschwäche. Diese kann sich beispielsweise durch Probleme beim Kauen und Schlucken, beim Stehen und beim Gehen oder beim Greifen bemerkbar machen.

Komplikationen entstehen vor allem, wenn Teile der Atemmuskulatur durch die Muskelschwäche in ihrer Funktion eingeschränkt werden. Ohne Behandlung kommt es dann zu wiederkehrenden Lungenentzündungen und schließlich zum Atemstillstand.

Symptome: Spinale Muskelatrophie Typ 1

Die SMA Typ I ist die frühkindliche Form der spinalen Muskelatrophie. Mediziner bezeichnen sie auch als SMA Typ I, Morbus Werdnig-Hoffmann oder akute infantile SMA. SMA Typ I ist die häufigste Form der Erkrankung. Im Vergleich mit anderen Formen verläuft sie mit den schwersten Symptomen – und tritt bereits in den ersten sechs Lebensmonaten auf. Oft zeigen schon Neugeborene eine ausgeprägte Muskelschwäche.

Typisch für SMA Typ I ist das „Floppy Infant Syndrom“: Wird das Baby in Bauchlage angehoben, pendeln Arme und Gliedmaßen gestreckt nach unten. Zieht man an den Armen, während das Kind auf dem Rücken liegt, überstreckt es den Nacken, der Kopf fällt also nach hinten. Ursache für diese Spannungslosigkeit im Vergleich mit gesunden Neugeborenen ist die angeborene Muskelschwäche. Dier Symptomatik wird in der Medizin als „Floppy Infant-Syndrom” bezeichnet.

Wichtigstes Symptom der spinalen Muskelatrophie ist eine verminderte Grundspannung der Muskulatur. Weitere Symptome von SMA Typ I sind:

  • Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten und zu bewegen
  • Unzureichend ausgebildete Zwischenrippenmuskulatur (Interkostalmuskulatur, wichtiger Teil der Atemmuskulatur)
  • Glockenförmige Wölbung des Brustkorbes („Glockenthorax”)
  • Erhöhte Atemfrequenz aufgrund der unterentwickelten Atemmuskulatur (Tachypnoe)
  • „Froschschenkelhaltung” der Beine
  • Unwillkürliche, unregelmäßige Zuckungen der Zungenmuskulatur

Kinder mit SMA Typ I erlernen außerdem in ihrer späteren Entwicklung das freie Sitzen nicht, weil sie die dafür notwendige Muskelspannung nicht aufbringen können.

Kinder mit dieser Form der SMA haben ohne Behandlung eines sehr eingeschränkte Lebenserwartung. Unbehandelt versterben etwa zwei Drittel von ihnen schon vor dem 2. Lebensjahr an Atemversagen. Seit wenigen Jahren sind jedoch Medikamente verfügbar, die an der Ursache der Erkrankung ansetzen und sehr gute Wirksamkeit zeigen (siehe: Behandlung).

Symptome: Spinale Muskelatrophie Typ 2

Die SMA Typ II tritt zwischen dem achten und achtzehnten Lebensmonat auf. Mediziner bezeichnen sie daher auch als chronische spätinfantile Intermediäre SMA.

SMA Typ II ist vor allem durch eine stark ausgeprägte Schwäche der Beinmuskulatur gekennzeichnet. Der Muskelschwund zeigt sich besonders am Oberschenkel, ist jedoch auch an der Zwischenrippenmuskulatur feststellbar. Dadurch senkt sich die vordere Wand des Brustkorbs ein und es entsteht eine sogenannte Trichterbrust. Kinder mit SMA Typ II erlernen zwar das Sitzen. Freies Stehen ist ihnen jedoch meist nicht möglich.

Erkrankte Kinder hatten bis vor Kurzem eine stark eingeschränkte Lebenserwartung von etwa 10 bis 20 Jahren. Seitdem neue Medikamente zur Behandlung zur Verfügung stehen, ist jedoch - wie bei SMA Typ I - von einer wesentlich günstigeren Prognose auszugehen.

Symptome: Spinale Muskelatrophie Typ 3

Kinder, die an SMA Typ III erkranken, weisen meist nur sehr leichte Symptome auf. Die Muskelschwäche ist bei dieser Form der Spinalen Muskelatrophie nicht sehr stark ausgeprägt, die Lebenserwartung kaum eingeschränkt. Der Krankheitsbeginn liegt nach dem 18. Lebensmonat, aber vor dem 30. Lebensjahr. Spinale Muskelatrophie Typ III wird auch als SMA Typ III, Morbus Kugelberg-Welander oder juvenile SMA bezeichnet.

Symptome: Spinale Muskelatrophie Typ 4

An Typ 4 der SMA (adulte SMA) erkranken ausschließlich Erwachsene. Sie tritt in der Regel erst nach dem 30. Lebensjahr auf und zeigt ähnliche Symptome wie die SMA Typ III. Die Muskelschwäche ist hier gewöhnlich noch geringer ausgeprägt als bei Typ III und die Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt.

Ursachen

Ursache der Spinalen Muskelatrophie ist das Absterben von spezialisierten Nervenzellen des Rückenmarks. Diese Zellen werden auch als unteres Motoneuron oder 2. Motoneuron bezeichnet. Motoneurone sind für Muskelaktivitäten von entscheidender Bedeutung. Sie übertragen elektrische Impulse aus dem Rückenmark oder dem Gehirn an die Muskulatur und aktivieren damit Nervenfasern. Erst diese Signalübertragung ermöglicht die Anspannung des Muskels und damit willkürliche Bewegungen.

Für die Funktionsfähigkeit benötigen die Motoneurone bestimmte Eiweiße (Proteine). Diese Proteine werden als „Survival of Motorneuron (SMN)”-Faktoren bezeichnet. Die Information zur Herstellung dieser Faktoren sind auf den Genen SMN1 und SMN2 enthalten. Bei spinaler Muskelatrophie ist die Funktion des Gens SMN1 gestört. Dadurch wird das für die Funktionsfähigkeit der Motoneurone notwendige Eiweiß nicht bzw. nicht in ausreichender Menge gebildet. Das Gen SMN2 wiederum kann nur einen Teil der Eiweißproduktion steuern und SMN1 daher nicht vollständig ersetzen. Dadurch sterben nach und nach immer mehr Mononeuronen ab.

Der Verlust der motorischen Nervenzellen verringert die Aktivierung von Muskelfasern und verursacht so Muskelschwund und Lähmungen. SMA ist eine fortschreitende Erkrankung. Das bedeutet, dass die Ausprägung der Symptome mit der Zeit zunimmt.

Untersuchung

Wie erkennt man SMA?

Bei Säuglingen und Kleinkindern finden sich erste Hinweise auf SMA meist bei der körperlichen Untersuchung durch den Kinderarzt. Je nach Alter geben fehlende oder abgeschwächte Reflexe, Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten oder die Unfähigkeit zu selbstständigem Sitzen oder Stehen Anhaltspunkte für weitere Untersuchungen.

Bei älteren Kindern oder Erwachsenen erfolgt die Diagnose bei einem Neuropädiater oder einem Neurologen durch Reflexprüfung und körperliche Belastungstests, bei denen Kraft und Spannung der Muskulatur bewertet werden. Zusätzlich messen Ärzte oft die Nervenleitgeschwindigkeit (Elektroneurographie, ENG) und die Muskelspannung (Elektromyographie, EMG).

Die intellektuellen Fähigkeiten von Kindern mit SMA sind in der Regel nicht beeinträchtigt. Auch die Sinneswahrnehmungen (Sehen, Riechen, Hören, Schmecken) sind nicht betroffen.

Die Diagnose SMA lässt sich durch einen Gentest absichern, der im Rahmen des erweiterten Neugeborenen-Screenings angeboten wird.

Behandlung

Ist Muskelatrophie heilbar?

Zur ursächlichen Behandlung von SMA stehen seit wenigen Jahren Medikamente (erste Zulassung 2017) zur Verfügung, die auf unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen beruhen. Ob damit eine vollständige Heilung der Erkrankung möglich wird, ist derzeit noch nicht ausreichend untersucht.

Medikamentöse Behandlung von SMA

SMA-Medikamente: Onasemnogene-Abeparvovec

Onasemnogene-Abeparvovec (Handelsname: Zolgensma) enthält ein gentechnisch verändertes, unschädliches Virus als Vektor, das eine gesunde Kopie des SMN1-Gens in die defekten Nervenzellen einschleust. Es wird einmalig als Infusion verabreicht und bindet gut an die Oberflächen der geschädigten Motoneuronen. Diese produzieren dann selbst ein funktionsfähiges SMN1-Protein nach der korrekten Genvorlage. Die Behandlung mit Onasemnogene-Abeparvovec hat Nebenwirkungen wie Fieber, Erbrechen und Veränderungen des Blutbildes. Zur besseren Verträglichkeit muss 30 Tage vor Behandlungsbeginn Kortison verabreicht werden. Die Wirksamkeit der Therapie ist besonders hoch, wenn sie schon vor dem Auftreten der ersten Symptome verabreicht wird.

SMA-Medikamente: Nusinersen

Nusinersen (Handelsname: Spinraza) ist ein sogenanntes Antisense-Oleonukleotid. Es sorgt dafür, dass das gesunde SMN2-Gen in ein funktionelles SMN1-Gen umgewandelt wird, dass dann ausreichend SMN-Faktoren produziert. Nusinersen wird in mehreren Zyklen in den Rückenmarkskanal injiziert. Es ist gut verträglich und bessert den Krankheitsverlauf deutlich. Als Nebenwirkung treten vor allem Kopf- und Rückenschmerzen sowie Erbrechen auf.

SMA-Medikamente: Risdiplam

Risdiplam (Handelsname: Handelsname Evrysdi) ist ein kleines Molekül, das die genetische Information für die Funktion von SMN2 so verändert, dass ausreichend SMN-Proteine entstehen. Es wird als Trinklösung eingenommen oder für Säuglinge über eine Applikationsspritze verabreicht. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Fieber, Kopfschmerzen, Hautausschläge und Durchfall.

Nicht-medikamentöse Therapie von SMA

Die Beschwerden durch SMA können auch durch unterstützende Maßnahmen wie Physiotherapie, Atemtherapie, Logopädie und Psychotherapie positiv beeinflusst werden.

Im Falle einer ausgeprägten Skoliose kann durch eine Operation (Versteifung der Wirbelsäule) eine bessere Rumpfstabilität erreicht werden, um eine aufrechte Körperhaltung zu ermöglichen und die fortschreitenden Atemprobleme zu lindern.

Prognose

Ist spinale Muskelatrophie tödlich?

Die Prognose der Spinalen Muskelatrophie ist abhängig von der Form der Erkrankung. Die Lebenserwartung ist generell umso besser, je später die Symptome auftreten und je früher die Diagnose gestellt wird.

Vor allem an SMA Typ I und II Erkrankte hatten bis vor einigen Jahren eine stark eingeschränkte Lebenserwartung. Mit den neuen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten dürfte sich die Prognose hinsichtlich Lebensqualität und Erreichen wichtiger Entwicklungsschritte wie Kopfkontrolle und freies Sitzen deutlich verbessern. Für eine endgültige Bewertung der Wirksamkeit und Verträglichkeit dieser Therapien müssen jedoch die Ergebnisse von Langzeituntersuchungen abgewartet werden.

Autor: Charly Kahle, fachliche Prüfung: Yvonne Jurkoweit (Ärztin)

Stand: 05.05.2022

Quelle:
  1. Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V.: Spinale Muskelatrophie.
  2. Martin, P., Horber, V., Park, J. et al. Spinale Muskelatrophie. Nervenarzt 93, 191–200 (2022).
  3. Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.: Spinale Muskelatrophie bei Säuglingen (SMA Typ 1): Europäische Studie bestätigt Wirksamkeit.
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