Prader-Willi-Syndrom

Was ist das Prader-Willi-Syndrom? Welche Symptome verursacht diese seltene genetische Störung und wie lässt sie sich behandeln? Hier finden Sie die Antworten auf diese und weitere Fragen zum Prader-Willi-Syndrom.

Synonyme

Prader-Willi-Labhart-Syndrom, PWS

Prader-Willi-Syndrom im Überblick

Prader-Willi-Syndrom

Das Prader-Willi-Syndrom (PWS) ist eine komplexe genetisch bedingte Störung. Sie verursacht körperliche Symptome, Verhaltensauffälligkeiten und intellektuelle Beeinträchtigungen. Typisch ist eine unkontrollierbare Esssucht (Hyperphagie), die häufig zu schwerem Übergewicht (Adipositas) führt. Das Prader-Willi-Syndrom wurde erstmals 1956 von Schweizer Kinderärzten beschrieben.

Symptome: Babys mit dem Prader-Willi-Syndrom sind vor allem in Folge einer ausgeprägten Muskelschwäche in der Regel sehr ruhig und bewegen sich auffällig wenig. Die motorische und intellektuelle Entwicklung ist häufig deutlich verzögert. Die für diese Erkrankung typische Esssucht entwickelt sich meist innerhalb der ersten zehn Lebensjahre. Weitere Symptome von PWS sind Kleinwuchs, unvollständige sexuelle Entwicklung und Verhaltensauffälligkeiten wie mangelnde Impulskontrolle. Häufig sind auch milde bis moderate Minderungen der Intelligenz.

Ursachen: Das Prader-Willi-Syndrom wird durch einen Defekt auf dem 15. Chromosom verursacht. Dieser Defekt beeinträchtigt unter anderem die Funktion des Hypothalamus, einer Gehirnregion, die für die hormonelle Steuerung von Körperprozessen verantwortlich ist. Dadurch entsteht bei Menschen mit Prader-Willi-Syndrom unter anderem ein Mangel an Wachstumshormon und Sexualhormonen.

Behandlung: Die medikamentöse Gabe von Wachstumshormon und eine strikt geregelte gesunde Ernährung in Kombination mit viel Bewegung können die körperlichen Symptome des Prader-Willi-Syndroms mildern. Frühe intensive Förderung verringert Entwicklungsdefizite.

Prognose: Das Prader-Willi-Syndrom ist nicht heilbar. Menschen mit dem PWS-Syndrom erreichen einen gewissen Grad von Selbstständigkeit. In der Regel sind sie jedoch auch als Erwachsene nicht in der Lage, allein zu leben. Oft ist das Leben in einer PWS-Wohngruppe die beste Möglichkeit, einen strukturierten Alltag mit kontrollierter Ernährung zu gewährleisten.

Häufigkeit

Das Prader-Willi-Syndrom ist eine seltene Erkrankung (orphan disease). Seine Häufigkeit wird auf etwa einen Fall pro 15.000 bis 30.000 Geburten geschätzt. Mädchen und Jungen sind gleich häufig betroffen.

Symptome von Prader-Willi-Syndrom

Das Prader-Willi-Syndrom ist eine komplexe Störung, die vielfältige körperliche, psychische und kognitive Symptome beinhaltet. Bei verschiedenen Menschen können diese Symptome ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Symptome bei Säuglingen

Neugeborene mit Prader-Willi-Syndrom kommen häufig mit einer ausgeprägten Muskelschwäche auf die Welt und bewegen sich im ersten Lebensjahr deutlich weniger als gesunde Babys. Ärzte sprechen hier von Muskelhypotonie. Säuglinge mit PWS sind sehr still, schlafen auffällig viel und haben Schwierigkeiten zu saugen und zu schlucken. Um die Ernährung zu sichern, wird deshalb anfangs oft eine Magensonde gelegt. Im Laufe des ersten Lebensjahres normalisiert sich die Nahrungsaufnahme. Die Kinder werden wacher und mobiler. Die geistige und körperliche Entwicklung bleibt meist verlangsamt. Aber mit etwas Verzögerung lernen alle Kinder krabbeln, laufen und sprechen.

Entwicklung der Esssucht

Im Alter von drei bis fünf Jahren, mitunter auch früher oder später, entwickeln Kinder mit PWS ein suchtartig gesteigertes Interesse an Nahrung und einen unstillbaren Appetit. Dabei werden wahllos beliebige Lebensmittel, Reste, Abfälle oder Dinge wie etwa Zahnpasta oder Tierfutter gegessen. Deshalb muss alles Essbare außer Reichweite der Kinder aufbewahrt werden. Zudem ist es notwendig, das Essen streng zu regulieren, weil die Kinder ansonsten extremes Übergewicht (Adipositas) entwickeln. Wegen des ungehemmten Esstriebes und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken hat die Vermeidung von Adipositas bei Menschen mit PWS lebenslang höchste Priorität.

Körperliche Symptome

Menschen mit Prader-Willi-Syndrom sind häufig kleinwüchsig. Auffällige körperliche Symptome sind auch die kleinen Hände und Füße sowie relativ viel Fettgewebe, vor allem in der Körpermitte. Die Muskulatur ist in der Regel gering ausgebildet. Allerdings sind diese Symptome durch die mittlerweile früh begonnene Behandlung mit Wachstumshormonen in der Regel wesentlich geringer ausgeprägt als früher. Darüber hinaus haben Menschen mit PWS im Vergleich mit Familienmitgliedern häufig hellere Haut, Augen und Haare.

Symptome der unvollständigen Sexualentwicklung:

Die häufig unvollständige Sexualentwicklung ist auf den durch das Prader-Willi-Syndrom verursachten Sexualhormonmangel (Hypogonadismus) zurückzuführen. Typische Symptome der unvollständigen Sexualentwicklung sind:

  • Verzögerte oder unvollständige Pubertät
  • Bei Jungen/Männern: kleiner Penis und Hoden, Hodenhochstand, ausbleibender Stimmbruch, spärlicher Bartwuchs,
  • Bei Mädchen/Frauen: wenig ausgebildete Klitoris und Schamlippen, unregelmäßige oder ausbleibende Menstruation
  • Keine oder sehr geringe Fruchtbarkeit

Häufige Krankheiten und typische Gesundheitsprobleme:

Kognitive und psychische Symptome

Kognitive Symptome: Die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Menschen mit Prader-Willi-Syndrom ist oft leicht bis moderat herabgesetzt. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Intelligenz nicht beeinträchtigt ist. Menschen mit Prader-Willi-Syndrom verfügen in der Regel über sehr gut ausgeprägte visuelle Informationsverarbeitung, eine sehr gute Feinmotorik und ein ausgezeichnetes Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis hingegen ist schlechter als im Durchschnitt gesunder Menschen. Auch abstraktes Denken, Rechnen und Schreiben fallen PWS-Betroffenen oft schwer. Zudem sprechen Menschen mit PWS häufig etwas undeutlich, da sie Schwierigkeiten haben, bestimmte Laute zu artikulieren. Der passive Wortschatz ist meist wesentlich größer als der aktive.

Psychische Symptome: Menschen mit PWS haben einen ausgeprägten Ordnungssinn und neigen zu Zwangshandlungen. Sie benötigen sehr viel Struktur und klare Regeln im Alltag. Sie leiden unter mangelnder Impulskontrolle, sind reizbar und stimmungslabil. Auf unvorhergesehene Ereignisse, Stress und Frustration reagieren Menschen mit Prader-Willi-Syndrom oft mit heftigen Wutausbrüchen oder mit selbstverletzendem Verhalten. Zu Letzterem zählt das sogenannte Skin-Picking: das wiederholte Kratzen oder Zupfen an Hautpartien. In einer strukturierten, liebevollen Umgebung können Menschen mit PWS auch sehr umgänglich, fröhlich, engagiert und gesellig sein.

Ursachen

Die Symptome des Prader-Willi-Syndroms werden wahrscheinlich größtenteils durch eine Funktionsstörung des Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns) verursacht, die unter anderem zu einem Mangel an Wachstumshormon und Geschlechtshormonen führt.

Genetische Ursache des Prader-Willi-Syndroms

Ursache des Syndroms ist ein Gendefekt auf dem 15. Chromosom. Dieser Gendefekt betrifft das sogenannte SNRPN-Gen. Ohne funktionsfähiges SNRPN-Gen kann der Organismus eine Reihe von Funktionseiweißen (Proteinen) nicht herstellen. Ganz ähnlich entsteht auch das Angelman-Syndrom: Verantwortlich ist hier ein direkt benachbartes Gen auf dem 15. Chromosom.

Der Defekt auf dem SNRPN-Gen kann verschiedene Formen haben:

Löschung auf dem väterlichen Chromosom 15: In 70 bis 75 Prozent der Fälle fehlt auf dem vom Vater ererbten Chromosom 15 ein Stück des SNRPN-Gens. Der Verlust ereignet sich erst während der Entwicklung des Spermiums: Die Körperzellen des Vaters haben den Defekt also noch nicht.

Mütterliche Disomie des Chromosoms 15: In 25 bis 30 Prozent der Fälle stammen beide Kopien des 15. Chromosoms von der Mutter und sind inaktiviert.

Imprinting-Defekt auf dem väterlichen Chromosom 15: In weniger als einem Prozent der Fälle hat das väterliche Chromosom 15 einen sogenannten Imprinting-Defekt. Der führt dazu, dass das Gen während der Entwicklung des Spermiums inaktiviert wird.

Wie führt der Gendefekt zu den Symptomen des Prader-Willi-Syndroms?

Wie genau das Fehlen eines funktionsfähigen SNRPN-Gens auf Chromosom 15 die vielfältigen Symptome des Prader-Willi-Syndroms auslöst, ist nicht bekannt. Eine wesentliche Rolle scheint eine Störung im Hypothalamus zu spielen. Diese Gehirnregion ist die Steuerzentrale für viele Körperprozesse. Der Hypothalamus gibt Hormone ab, die unter anderem den Tagesrhythmus, das Hunger- und Sättigungsgefühl, die Körpertemperatur, das Wachstum und die geschlechtliche Entwicklung regulieren. So kommt es bei Menschen mit Prader-Willi-Syndrom unter anderem zu einem Mangel an Wachstumshormonen und Geschlechtshormonen.

Ursache der Adipositas: Menschen mit Prader-Willi-Syndrom haben häufig einen stark erhöhten Spiegel des Hormons Ghrelin im Blut. Ghrelin ist ein Stoffwechselhormon, das unter anderem das Hunger- und Sättigungsgefühl reguliert. Mediziner vermuten, dass der Ghrelin-Überschuss in Zusammenhang mit dem ständigen Hungergefühl steht. Menschen mit PWS haben überdies einen herabgesetzten Grundenergieumsatz und benötigen deshalb nur etwa zwei Drittel der normalerweise täglich veranschlagten Kalorienmenge. Ständiges Hungergefühl, geringer Grundumsatz und wenig körperliche Aktivität infolge der geringen Muskelmasse führen leicht zu einer erheblichen Gewichtszunahme.

Wie hoch ist das Risiko für ein zweites Kind mit Prader-Willi-Syndrom

Wie hoch das Wiederholungsrisiko für ein Prader-Willi-Syndrom ist, hängt von der konkreten Ursache ab. Die absolut häufigsten Ursachen – Löschungen auf dem väterlichen Chromosom und mütterliche Disomie – sind zufällig auftretende Defekte bei der Entwicklung von Spermium und/oder Eizelle. Das Wiederholungsrisiko ist hier gering. Es wird auf weniger als ein Prozent geschätzt.

Demgegenüber besteht bei den seltenen Imprinting-Defekten ein Wiederholungsrisiko von 50 Prozent: In diesem Fall hat der Vater von seiner Mutter eine Version des 15. Chromosoms mit dem Imprinting-Defekt ererbt. Da das mütterliche Chromosom ohnehin inaktiviert wird, wirkt sich dieser Defekt bei ihm nicht aus. Seine Nachkommen erben jedoch mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit das defekte Chromosom 15 ihrer Großmutter.

Diagnose

Der Verdacht auf das Prader-Willi-Syndrom oder eine verwandte Störung entsteht oft bereits beim Neugeborenen. Die Diagnosestellung erfolgt durch einen Gentest. Dafür werden Blutproben entnommen und in einem Genetiklabor untersucht.

Behandlung

Kinder mit Prader-Willi-Syndrom und diagnostiziertem Wachstumshormonmangel erhalten bis zum Ende der Wachstumsphase täglich eine Dosis eines synthetischen Wachstumshormons, das mit dem menschlichen Wachstumshormon Somatropin (IGF-1) identisch ist. Das Mittel wird injiziert. Für die einfache Anwendung gibt es einen speziellen Injektions-Pen.

Die Behandlung bei Prader-Willi-Syndrom umfasst außerdem:

  • Striktes Ernährungsmanagement mit beschränkter Kalorienzufuhr
  • Eventuell Sexualhormone während der Pubertät
  • Tägliche Bewegung
  • Ein umfassendes, möglichst früh beginnendes Programm zur motorischen, kognitiven, psychischen und sozialen Förderung
  • Coaching für Familien

Welcher Arzt behandelt das Prader-Willi-Syndrom?

Idealerweise koordiniert ein auf das Prader-Willi-Syndrom oder seltene Erkrankungen spezialisiertes medizinisches Zentrum die Behandlung und Förderung von Menschen mit PWS. Solche Zentren gibt es an Universitätskliniken in mehreren deutschen Großstädten. Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangebote bietet überdies das Kompetenzzentrum Prader-Willi-Syndrom der Stiftung Kreuznacher Diakonie in Bad Sobernheim.

Prognose

Menschen mit Prader-Willi-Syndrom erreichen typischerweise einen gewissen Grad von Selbstständigkeit, können jedoch auch als Erwachsene nicht allein leben. In vielen Fällen ist das Leben in einer betreuten PWS-Wohngruppe eine gute Möglichkeit, soziale Kontakte außerhalb der Familie aufzubauen und weiterhin einen einfach strukturierten Alltag mit strikt kontrollierter Ernährung zu gewährleisten. Das Erreichen eines Regelschulabschlusses und eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt sind möglich, aber eher die Ausnahme.

Durch den frühen Beginn der Behandlung mit Wachstumshormonen und das konsequente Ernährungsmanagement haben sich Lebenserwartung und gesundheitliche Prognose von Menschen mit Prader-Willi-Syndrom in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei Adipositas ist die Lebenserwartung durch die daraus resultierenden Folgeerkrankungen weiterhin verringert. Anderenfalls besteht eine weitgehend normale Lebenserwartung.

Selbsthilfe bei Prader-Willi-Syndrom

Die Prader-Willi-Syndrom-Vereinigung Deutschland e.V. betreibt eine Internetseite mit informativen Ressourcen und einem Online-Forum. Zudem veranstaltet die Vereinigung Workshops und Familienwochenenden – und vermittelt Kontakte zu Selbsthilfegruppen.

Autor: Charly Kahle (Medizin-Redakteur), fachliche Prüfung: Yvonne Jurkoweit (Ärztin)

Stand: 21.03.2024

Quelle:
  1. Orphanet: Prader-Willi-Syndrom
  2. U. Eiholzer: Das Prader-Willi-Syndrom. Karger (2005)
  3. S. Schwandt: Leben ohne das Gefühl satt zu werden – das Prader-Willi-Syndrom: Darstellung und pädagogische Zugangsweisen. Wissenschaftliche Hausarbeit an der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Tübingen (2011)
  4. M. Butler, PP.D.K. Lee, B.Y. Whitman: Management of Prader-Willi Syndrome. Springer (2006)
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