Myasthenia gravis

Sehstörungen, rasche Ermüdung, Schluck- oder Sprechstörungen und hängende Augenlider: So vielfältig können die Symptome von Myasthenia gravis sein. Die neuromuskuläre Erkrankung ist jedoch gut behandelbar. Mit einer frühzeitigen medikamentösen Therapie lässt sich ein weitgehend normales Leben führen.

Synonyme

Myasthenia gravis pseudoparalytica, Erb-Goldflam-Krankheit (veraltet), Erb-Oppenheim-Goldflam-Syndrom (veraltet)

Definition

Myasthenia Gravis Augenlid

Was ist Myasthenia gravis?

Myasthenia gravis ist eine die Nerven und Muskeln (neuromuskuläre) betreffende Erkrankung. Durch eine fehlerhafte Signalübertragung an einer Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel (motorische Endplatte) kommt es zu einer Schwächung der Muskulatur. Charakteristisch für die Erkrankung ist, dass die Muskelschwäche nicht durchgehend besteht. Im Verlauf der Erkrankung kommt es oft schubweise zum Ausfall einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. Die Symptome sind nicht immer gleich stark ausgeprägt. Eine plötzlich auftretende Abschwächung einzelner Muskelgruppen kann ebenso auftreten wie eine langsam voranschreitende allgemeine Muskelermüdung, die sich gegen Abend verstärkt. Nach einer Erholungsphase bessert sich die Symptomatik meist rasch. Bei erneuter Belastung kann sie aber jederzeit wieder auftreten.

Was bedeutet Myasthenia gravis?

Die Bezeichnung Myasthenia gravis ist eine Zusammensetzung aus den griechischen Begriffen „mys” für Muskel und „asthenia” für Schwäche, und dem lateinischen „gravis” (schwer).

Wie entsteht Myasthenia gravis?

Myasthenia gravis ist eine sogenannte Autoimmunerkrankung. Sie entsteht durch eine fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems (Autoimmunreaktion). Dabei richten sich Abwehrstoffe des Immunsystems (Antikörper) nicht gegen Infektionserreger wie Viren oder Bakterien, sondern gegen körpereigene Strukturen und schädigen diese. Antikörper, die Gewebe, Hormone oder andere Antikörper angreifen, werden als Autoantikörper bezeichnet. Bei Menschen mit Myasthenia gravis lassen sich mehrere dieser Autoantikörper nachweisen.

Formen von Myasthenia gravis

Nach dem Zeitpunkt des Auftretens lassen sich zwei Formen der Myasthenia gravis unterscheiden:

  • Die Early-onset Myasthenia gravis (EOMG, juvenile Myasthenie) zeigt sich bereits im Kindes- oder Jugendalter.
  • Die Late-onset Myasthenia gravis (LOMG, Altersmyasthenie) entwickelt sich in der Regel erst ab dem 40. Lebensjahr.

Nach ihrer Ausbreitung wird die Muskelschwäche auch in generalisierte Myasthenia gravis (kann alle Muskeln angreifen) und okuläre Myasthenia gravis (das Auge betreffende) unterteilt. Bei der okulären Form zeigen sich die Symptome der Erkrankung hauptsächlich an der Augenmuskulatur. Bei der generalisierten Form beginnen die Symptome zwar ebenfalls meist am Auge, treten später aber am gesamten Körper auf.

Häufigkeit

Myasthenia gravis zählt zu den seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases). In Deutschland beträgt die Häufigkeit etwa 4 bis 10 von 100.000 Menschen. Untersuchungen zeigen aber, dass die Häufigkeit der Krankheit zunimmt. Möglicherweise hängt das mit der gestiegenen Lebenserwartung zusammen, wodurch auch Altersmyasthenie verstärkt diagnostiziert wird.

Myasthenia gravis kann in jedem Lebensalter auftreten. Am häufigsten sind aber Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren und Männer zwischen 50 und 80 Jahren betroffen. Kinder erkranken nur sehr selten an Myasthenia gravis.

Symptome

Die Symptome von Myasthenia gravis sind vielfältig und individuell sehr unterschiedlich. In der Frühphase der Erkrankung treten sie meist nur an wenigen Körperstellen, hauptsächlich im Gesicht, auf. Später kommt es bei 90 Prozent der Erkrankten zu einer Generalisierung der Symptomatik. Sie äußert sich gewöhnlich in einer Schwächung der Arm- und Beinmuskulatur.

Symptome: Wie beginnt Myasthenia gravis?

In der Anfangsphase macht sich die Erkrankung häufig im Bereich der Augenmuskulatur bemerkbar. Es kommt zum Sehen von Doppelbildern und zu Schwierigkeiten beim Heben der hängenden Augenlider (Ptosis). Durch die herabhängenden Oberlider erwecken Menschen, die unter Myasthenia gravis leiden, oft einen übermüdeten Eindruck („Schlafzimmerblick”). Manchmal sind auch weitere Gesichtsmuskeln in ihrer Funktion eingeschränkt. Das äußert sich etwa in der Mimik, beim Sprechen, Lachen, Kauen und Schlucken. Kommt eine Schwäche der Nackenmuskulatur hinzu, ist auch die Kopfhaltung beeinträchtigt. Das Aufrecht- und Geradehalten des Kopfes fällt dann sehr schwer. Betroffene helfen sich manchmal durch ein Abstützen mit der Hand oder durch Anlehnen.

Symptome: Verlauf von Myasthenia gravis

Im weiteren Verlauf breitet sich die Erkrankung auf die Muskulatur der Extremitäten aus. Die Muskelschwäche zeigt sich in den Armen meist deutlicher als in den Beinen. Typisch ist eine Verschlechterung der Symptome am Abend und nach Anstrengung.

Im Alltag treten unter anderem folgende Probleme auf:

  • Schwierigkeiten, die Arme über den Kopf zu heben beim Haarewaschen, Föhnen, Wäsche aufhängen usw.
  • Schwierigkeiten beim Halten und Greifen von Gegenständen oder beim Bewegen einzelner Finger (etwa Öffnen von Verschlüssen, Schneiden mit Messer oder Schere, Lenkrad sicher umfassen, Schreiben und Tippen)
  • Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder beim Bewältigen längerer Gehstrecken, Gangunsicherheit, Stolpern

Myasthene Krise: Kann Myasthenia gravis fatal verlaufen?

In einigen seltenen Fällen verläuft Myasthenia gravis akut besonders schwer. Mediziner sprechen dann von einer myasthenen Krise. Auslöser sind meist Infektionen, Verletzungen oder falsche Medikamente (siehe auch Ursachen). In manchen Fällen bleibt die Ursache auch unerkannt. In myasthenen Krisen kommt zu einer Schwächung der Atemmuskulatur, die unbehandelt zum Atemstillstand führen kann. Weitere Symptome sind Herzrasen, Weitstellung der Pupillen und Sprechstörungen. Die myasthene Krise ist ein Notfall. Sie muss immer intensivmedizinisch behandelt werden.

Ursachen

Mögliche Auslöser für Myasthenia gravis sind noch nicht vollständig erforscht. Bei den meisten Erkrankten lassen sich jedoch Autoantikörper gegen Strukturen an der Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel, der motorischen Endplatte, nachweisen. An dieser Kontaktstelle befinden sich Kanäle, die Acetylcholinrezeptoren. Sie dienen der Signalübertragung vom Nerv zum Muskel, die über den Botenstoff Acetylcholin gesteuert wird. Sind Autoantikörper gegen den Acetylcholinrezeptor vorhanden, werden die Rezeptoren beschleunigt abgebaut. Dadurch kommt es zu einer Überleitungsstörung an der motorischen Endplatte, die wiederum eine Schwächung der betroffenen Muskeln zur Folge hat.

Bei einigen Menschen mit Myasthenia gravis sind keine Autoantikörper gegen Acetylcholinrezeptoren vorhanden. Die Autoimmunreaktion richtet sich bei ihnen gegen andere körpereigene Strukturen. Bei dieser Form der Myasthenia gravis kommt es oft zu einem besonders dramatischen Verlauf.

Einige Medikamente verschlechtern die Symptome von Myasthenia gravis. Sie sollten daher vermieden werden oder zumindest auf die geringstmögliche Dosis angepasst werden. Dazu zählen:

  • Beruhigungsmittel (Benzodiazepine)
  • Antidepressiva
  • Diuretika (Entwässerungsmittel)
  • Antirheumatika wie D-Penicillinamin oder Chloroquin können einen akuten Schub auslösen
  • Antibiotika (Tetracycline, Makrolide, Gyrasehemmer, Aminoglycoside)
  • Betablocker
  • Antimalariamittel
  • Magnesium
  • Botulinum-Toxin

Vermutlich gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Erkrankungen der Thymusdrüse und der Entstehung von Myasthenia gravis. Der Thymus ist ein kleines Organ, das hinter dem Brustbein liegt. Er dient der Vermehrung und Reifung von bestimmten Abwehrzellen des Immunsystems. Seine Größe und Funktion nehmen mit zunehmendem Alter ab. Bei einigen Patienten mit Myasthenia gravis lassen sich Thymus-Entzündungen (Thymitis) oder gutartige Vergrößerungen des Thymus (Thymom) nachweisen.

Untersuchung

Zur Diagnose von Myasthenia gravis stehen im Wesentlichen folgende Verfahren zur Verfügung:

  • Körperliche Untersuchung mittels neurologischer Tests: zum Beispiel Überprüfung der Muskelermüdbarkeit durch schnelles, wiederholtes Öffnen und Schließen der Hand; „Simpson-Test”: Überprüfung der Ermüdbarkeit der Augenlider
  • Antikörperbestimmung: Autoantikörper gegen den Acetylcholinrezeptor gelten als wichtiger Hinweis auf eine gravis. Zuweilen lassen sich seltene Antikörper gegen ein besonderes Enzym, die skelettmuskelspezifische Rezeptortyrosinkinase (MuSK-Antikörper), oder gegen weitere körpereigene Strukturen nachweisen.
  • Elektrische Nervenstimulation: Untersuchung der Muskelermüdbarkeit durch rasche, wiederholte elektrische schmerzlose Reize
  • Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) des Brustkorbs zur Beurteilung des Thymus
  • „Tensilon-Test”: Überprüfung der Besserung der Muskelkraft nach Injektion eines Medikamentes, das die Impulsübertragung vom Nerv auf den Muskel fördert

Behandlung

Bei einem leichten Verlauf von Myasthenia gravis ist eine sofortige Behandlung häufig nicht notwendig. Vielmehr ist es möglich, zunächst abzuwarten. Denn in einigen Fällen bilden sich die Symptome nach dem ersten Auftreten spontan zurück (Spontanremission). Um die Muskulatur zu fördern, ist eine begleitende Physiotherapie grundsätzlich empfehlenswert.

Besteht die Symptomatik länger als ein Jahr, raten Ärzte oft zu einer operativen Entfernung der Thymusdrüse (Thymektomie). Dadurch lässt sich bei etwa 70 Prozent der Erkrankten die Neubildung von Autoantikörpern verhindern. Zusätzlich werden Medikamente verabreicht, die das Immunsystem abschwächen (Immunsuppression).

Behandlung: Immunsuppressive medikamentöse Therapie

Zur Immunsuppression bei Myasthenia gravis werden meist Glukokortikoide (Cortison) und Azathioprin (ein Mittel, das die Bildung bestimmter Immunzellen hemmt) eingesetzt. In schwereren Fällen entscheiden sich Ärzte manchmal für Immunglobuline in hoher Dosierung. Therapeutisch eingesetzte Immunglobuline sind Antikörper, die die Wirkung der Autoantikörper abschwächen.

Behandlung: Immunadsorption bei Myasthenia gravis

Eine weitere Möglichkeit zur Behandlung eines schweren Verlaufs der Myasthenia gravis ist die sogenannte Immunadsorption. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Blutwäsche. Die Immunadsorption findet außerhalb des Körpers in einem speziellen Gerät, dem, statt. Im Absorber werden die Blutzellen vom zellfreien Blutplasma getrennt und die schädigenden Autoantikörper aus dem Plasma entfernt. Anschließend wird das gereinigte Plasma im Immunadsorber wieder mit den Blutzellen zusammengeführt und in den Blutkreislauf zurückgeführt.

Behandlung: symptomatische medikamentöse Therapie

Um die Symptome von Myasthenia gravis zu lindern, werden sogenannte Acetylcholinesterasehemmer eingesetzt. Sie vermindern die Wirkung des Enzyms Acetylcholesterase, das den Botenstoff Acetylcholin abbaut. Dadurch steht mehr Acetylcholin für die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel zur Verfügung, die Muskelkraft wird verbessert. Die Wirkung von Acetylcholinesterasehemmern ist leider häufig nur auf die Muskulatur von Armen und Beinen begrenzt. Auf die Symptomatik am Auge haben sie in der Regel wenig Einfluss.

Nicht alle Menschen mit Myasthenia gravis reagieren gleich gut auf die gängigen Therapien. Für sie stehen zahlreiche medikamentöse Alternativen aus den Arzneistoffklassen der Immunsuppressiva und Immunmodulatoren zur Verfügung, zum Beispiel Cyclosporin A (CsA), Cyclophosphamid (CYC), Methotrexat (MTX) oder Mycophenolat mofetil (MMF).

Vorbeugung

Da es sich bei Myasthenia gravis um eine Autoimmunerkrankung handelt, ist eine Vorbeugung nicht möglich. Vor allem bei familiärer Vorbelastung ist es aber hilfreich, auf charakteristische Anzeichen zu achten. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung hilft, das Risiko für einen schweren Verlauf oder eine myasthene Krise zu verringern.

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