Münchhausen-Syndrom
Das Münchhausen-Syndrom ist eine schwere psychische Erkrankung, bei der Menschen Krankheiten vortäuschen oder absichtlich verursachen. Sie setzen alles daran, medizinische Zuwendung in möglichst intensiver Form zu erhalten.
Synonyme
Koryphäen-Killer-Syndrom, Hospital-Hopper-Syndrom
Definition: Was ist Münchhausen-Syndrom?
Das Münchhausen-Syndrom ist eine schwere psychische Erkrankung. Ihr wichtigstes Merkmal: Die erkrankten Menschen setzen alles daran, medizinische Zuwendung in möglichst intensiver Form zu erhalten. Sie erfinden beispielsweise ebenso glaubhafte wie komplizierte Krankengeschichten.
Menschen mit Münchhausen-Syndrom schrecken auch vor selbstverletzendem Verhalten nicht zurück. Anders als etwa Simulanten oder Menschen mit Hypochondrie fügen sie sich Verletzungen zu. Sie infizieren Wunden, verätzen sich die Haut oder verschlucken Gegenstände. Zudem manipulieren sie medizinische Geräte oder nehmen Medikamente, um Symptome vorzutäuschen (siehe Symptome).
Wegen des geschickten Vorgehens fallen Menschen mit Münchhausen-Syndrom in der ärztlichen oder klinischen Praxis nur selten als gestört auf. Und wenn sie auffällig werden, entziehen sie sich in der Regel einer weiteren Behandlung, indem sie beispielsweise das Krankenhaus überstürzt verlassen. Wegen dieses Fluchtverhaltens ist es überaus schwierig, Menschen mit Münchhausen-Syndrom von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen.
Die meisten Menschen mit Münchhausen-Syndrom sind gut gebildete Männer in mittleren Jahren oder Frauen im Klimakterium vor und nach der Menopause.
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Eine vor allem bei Müttern auftretende und für Außenstehende besonders erschreckende Variante der Zwangserkrankung ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen-by-proxy-Syndrom). Bei dieser Erkrankung „übertragen“ Mütter das selbstverletzende Verhalten auf ihre Kinder. Sie misshandeln die Kinder auf mannigfaltige Weise, um sich anschließend aufopferungsvoll um die Pflege zu kümmern.
Häufig kommen Mütter mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom aus Pflegeberufen. Daher verfügen sie über medizinisches Wissen, mit dem sie ihre Kinder immer wieder manipulieren und die Ärzte vor neue unerklärliche Herausforderungen stellen. Die Kinder (mitunter auch Tiere) werden dabei häufig Opfer von lange unerkannter strafbarer Misshandlung.
Artifizielle Störungen
Das Münchhausen-Syndrom und das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zählen zu den artifiziellen Störungen, zu denen auch die sogenannte Artefaktstörung gezählt wird. Die Artefaktstörung unterscheidet sich von den anderen artifiziellen Störungen dadurch, dass die Betroffenen keine Symptome erfinden, sondern sich „nur“ selbst aktiv Schäden wie Wundinfektionen oder Verletzungen zufügen.
Im Gegensatz zu Simulanten verfolgen Menschen mit artifiziellen Störungen nicht das Ziel, krankgeschrieben zu werden oder Schmerzensgeld nach einem Unfall zu erhalten. Ihnen geht es vor allem darum, als krank wahrgenommen und intensiv untersucht bzw. behandelt zu werden. Mütter oder andere Personen mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hingegen sehnen sich nach dem Gefühl, wegen ihrer „aufopfernden Pflege“ bewundert und bemitleidet zu werden.
Münchhausen-Syndrom: Häufigkeit
Die Häufigkeit von artifiziellen Störungen wie dem Münchhausen-Syndrom ist nur schwer zu ermitteln. Das hat vor allem 2 Gründe.
- Viele Fälle werden nicht erkannt.
- Bei dem geringsten Verdacht entdeckt zu werden, entziehen Münchhausen-Kranke sich der weiteren Behandlung.
Experten gehen davon aus, dass zwischen 2 und 5 Prozent der Patienten in allgemeinen Krankenhäusern unter artifiziellen Störungen leiden. In neurologischen Kliniken liegt der Anteil demnach bei etwa 3 Prozent.
Münchhausen-Syndrom: Symptome
Die hervorstechendsten Symptome des Münchhausen-Syndroms sind selbstverletzendes Verhalten, frei erfundene und durchaus plausible Krankengeschichten sowie die Unfähigkeit, das eigene Verhalten als krankhaften Zwang zu erkennen. So fehlt den Betroffenen auch die Einsicht, sich behandeln zu lassen. Im Folgenden die Symptome im Überblick.
Selbstverletzendes Verhalten
Menschen mit Münchhausen-Syndrom fügen sich selbst Schaden zu und zwingen sich so in Patientenrolle. Dabei schrecken sie auch vor lebensgefährlichen Verletzungen oder Manipulationen nicht zurück. Die Palette der Mittel ist lang. Sie reicht von einfachen Hautverletzungen und dem Herbeiführen von Wundinfektionen über Verätzungen und den Missbrauch von Medikamenten bis zu Manipulationen an medizinischem Gerät oder Krankenakten. Um eine Anämie (Blutmangel) vorzutäuschen, zapfen sich Patienten mit Münchhausen-Syndrom Blut ab. Oder sie gehen versiert mit Medikamenten um. So schlucken Sie Abführmittel, um Durchfallerkrankungen zu simulieren oder nutzen Antidiabetika, um den Blutzuckerspiegel bis zur Unterzuckerung zu senken. Sie schlucken auch Schilddrüsenhormone, um Stoffwechselerkrankungen vorzutäuschen.
Selbst unmittelbar lebensgefährliche Krankheiten werden manipulativ herbeigeführt. So gibt es Fälle, in denen sich Münchhausen-Patienten Fremdkörper oder Luft injizieren, um eine Lungenembolie hervorzurufen.
Krankhaftes zwanghaftes Lügen
Menschen mit Münchhausen-Syndrom lügen zwanghaft, wenn es um ihre Krankengeschichte geht. Dabei offenbaren sie einen enormen Erfindungsreichtum. Wenn die Gefahr besteht, dass Lügen entlarvt werden könnten, brechen Menschen mit Münchhausen-Syndrom die Behandlung in aller Regel umgehend ab. Nicht selten wenden sie sich anschließend mit der gleichen oder einer neuen Lüge an die nächste Klinik oder den nächsten Arzt.
Kein Leidensdruck und keine Einsichtsfähigkeit
Charakteriristisch für Menschen mit Münchhausen-Syndrom sind ferner der fehlende Leidensdruck und die fehlende Einsichtsfähigkeit. Wie für eine Zwangserkrankung typisch blenden Betroffene die Gesundheitsrisiken und Schmerzen vollkommen aus. Sie hegen auch keinerlei Schuldgefühle, wenn sie die Notaufnahmen von Krankenhäusern mit ihrem „Fall“ beschäftigen und so wichtige Ressourcen binden und enorme Kosten verursachen. Viele Münchhausen-Patienten haben kiloschwere Krankenakten mit trickreichen und raffinierten Krankengeschichten aus unzähligen Kliniken.
Ursachen von Münchhausen-Syndrom
Wie bei vielen anderen psychischen Erkrankungen auch, sind die wirklichen Ursachen des Münchhausen-Syndroms nicht bekannt. Man geht aber davon aus, dass schwerwiegende Störungen der Persönlichkeitsentwicklung (psychische Traumata) eine wichtige Rolle spielen. Nicht selten geht das Münchhausen-Syndrom zudem mit Borderline-Störungen einher. Besonders anfällig scheinen darüber hinaus Menschen mit stark ichbezogenen Selbstbild und wenig Empathie zu sein.
Untersuchung
Die Diagnose des Münchhausen-Syndroms ist schwierig, weil die Betroffenen ihre Krankengeschichte und die Symptome oft überaus kenntnisreich und überzeugend präsentieren. Zudem wechseln die Patienten den Arzt oder das Krankenhaus bei den geringsten Anzeichen dafür, dass sie der Lüge überführt werden könnten.
Am ehesten ist das Münchhausen-Syndrom daran zu erkennen, dass sich der Gesundheitszustand nach erfolgreichen Behandlungen wiederholt, wieder ohne erkennbare Ursache verschlechtert.
Ebenfalls auffällig erscheint, wenn Patienten sich über Behandlungsfortschritte nicht freuen, belastende Symptome mühelos ertragen und selbst unangenehme Untersuchungen ohne Unbehagen hinnehmen.
Erfahrene Ärzte begründen einen Verdacht auf Münchhausen-Syndrom zuweilen damit, dass Betroffene keine Freude über positive Diagnosen, Behandlungsfortschritte oder Entlassungen zeigen und in ihrer Krankheit regelrecht aufblühen (sogenannter Krankheitsgewinn).
Münchhausen-Syndrom: Behandlung
Das einzige Verfahren zur Behandlung von Münchhausen-Syndrom ist eine Psychotherapie. In der Praxis ist es allerdings sehr schwer, Betroffene von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen. Denn es gehört zu den Symptomen von Zwangserkrankungen wie dem Münchhausen-Syndrom, dass die Betroffenen keine Einsicht in ihr Kranksein haben. Was von außen betrachtet als Manipulation und selbstverletzendes Verhalten offenkundig ist, stellt sich für die Betroffenen anders dar. Sie sind felsenfest davon überzeugt, dass sie entsprechend ihrer erfundenen und/oder selbst herbeigeführten Symptome tatsächlich körperlich schwer krank sind.
Wenn Menschen mit Münchhausen-Syndrom in eine Therapie einwilligen, erfolgt die Behandlung meist in einer spezialisierten Klinik für Zwangserkrankungen. In der Regel schließt sich daran eine ambulante und langjährige psychotherapeutische Behandlung an.
Prognose: Lässt sich das Münchhausen-Syndrom heilen?
Die Heilungsaussichten bei Münchhausen-Syndrom gelten als nicht besonders gut. Zum einen finden überhaupt nur wenige Erkrankte den Weg in eine Therapie. Zum anderen bleibt die Rückfallgefahr selbst nach einer erfolgreichen Behandlung überaus groß.
Autor: Charly Kahle (Medizin-Redakteur)
Stand: 21.03.2024