Marfan Syndrom (MFS)
Wie erkennt man das Marfan Syndrom? Wie wird die seltene Bindegewebserkrankung behandelt? Hier erfahren Sie mehr über Symptome, Ursachen, Therapie und Prognose des Marfan Syndroms.
Synonyme
MFS, Marfan Syndrom Typ I, MASS-Syndrom, Marfan-Syndrom
Marfan-Syndrom im Überblick
Definition: Das Marfan Syndrom (MFS) ist eine Erkrankung des Bindegewebes. Erstmals beschrieben wurde die Erkrankung 1896 durch den französischen Kinderarzt Antoine Marfan. Das Marfan Syndrom ist eine Erbkrankheit und zählt zu den seltenen Erkrankungen.
Symptome: Das Marfan Syndrom verursacht eine Vielzahl von Symptomen, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt auftreten. Äußerlich wahrnehmbare Krankheitszeichen sind Symptome eines verstärkten Wachstums wie beispielsweise auffällige Körpergröße oder überlange Arme und Beine. Ausführliche Informationen finden Sie im Abschnitt Symptome.
Ursache: Das Marfan Syndrom ist eine Erbkrankheit. In etwa 75 Prozent der Fälle ist bereits ein Elternteil erkrankt. In diesem Fall wird das fehlerhafte Gen mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an den Nachwuchs vererbt. Etwa jeder vierte Erkrankungsfall (ca. 25 Prozent) entsteht durch eine spontan aufgetretene zufällige Veränderung (Spontanmutation) des Genmaterials.
Behandlung: MFS ist nicht heilbar. Die Behandlung konzentriert sich darauf, durch eine fachübergreifende individuelle Therapie die Symptome zu lindern und Risiken zu beherrschen. Das gelingt in der Regel am besten in spezialisierten Marfan-Zentren.
Prognose: Unbehandelt kann das Marfan Syndrom schwere Schäden verursachen und die Lebenserwartung stark verkürzen. Kritisch sind in erster Linie Komplikationen, die zu Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen und zu akut lebensgefährlichen Einrissen der Hauptschlagader führen können.
Häufigkeit: Wie häufig tritt das Marfan Syndrom auf?
Das Marfan Syndrom gehört zu den seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases). Die Häufigkeit wird mit 1 bis 2 von 10.000 Menschen angegeben. In Deutschland gibt es demnach zwischen 8.000 und 16.000 Menschen mit MFS. Männer und Frauen erkranken gleich häufig.
Symptome
Wie erkennt man das Marfan Syndrom?
Das Marfan Syndrom verursacht in vielen Fällen verstärktes Wachstum. Daher fällt häufig zuerst die überdurchschnittliche oder zumindest im Vergleich mit Geschwistern ungewöhnliche Körpergröße auf. Auch ungewöhnlich lange Arme und Beine, lange, schmale Hände und Finger sowie lange Schädel sind mögliche MFS-Symptome.
Was ist das positive Handgelenkszeichen?
Typisches Symptom des Marfan Syndroms ist das sogenannte positive Handgelenkszeichen: Menschen mit MFS können das eigene Handgelenk mit der anderen Hand vollständig umfassen, wobei sich die Endglieder von Daumen und kleinem Finger überlappen. Ebenfalls auffällig sind die überstreckbaren, ungewöhnlich beweglichen Gelenke.
Marfan Syndrom: Symptome im Überblick
Da Bindegewebe überall im Körper vorkommt, kann das Marfan Syndrom vielfältige Symptome verursachen. Besonders häufig betroffen sind Knochen und Gelenke, Augen, Herz und Blutgefäße sowie die Lunge.
Symptome von Marfan Syndrom: Gesicht und Zähne
Typische Symptome des Marfan Syndroms im Gesicht sind ein langer, schmaler Schädel und tief liegende, mitunter leicht nach unten schräg stehende Augen. Ein hoher Gaumen sowie flache Wangenknochen und ein ungewöhnlich kleiner, zurückweichender Unterkiefer sind weitere typische Fehlbildungen. Der kleine Kiefer begünstigt Zahnfehlstellungen. Typisch sind schiefe, zu eng stehende Zähne und ein Überbiss.
Symptome von Marfan Syndrom: Augen
Menschen mit Marfan Syndrom entwickeln häufig Augenprobleme. Kurzsichtigkeit beginnt oft schon in der Kindheit und verschlechtert sich zunehmend. Nahezu drei Viertel der Erkrankten über 50 Jahre haben ernsthafte Augenveränderungen. Unbehandelt können diese Probleme zum Verlust des Sehvermögens (Erblindung) führen.
- In etwa 60 Prozent der Fälle verschiebt sich aufgrund einer Schwäche der haltenden Bänder die Augenlinse (Linsenektopie).
- Weitere Augen-Symptome sind eine ungewöhnlich flache Hornhaut des Auges und eine unterentwickelte Iris.
- Marfan Syndrom birgt auch ein erhöhtes Risiko für Netzhautablösungen, für Trübungen der Augenlinse (Grauer Star) und eine chronische Erhöhung des Augeninnendrucks (Glaukom).
Symptome von Marfan Syndrom: Haut
Die Haut wirkt beim Marfan Syndrom samtartig weich. Das Unterhautfettgewebe ist wenig ausgeprägt. Die Haut an Schultern und Brust, am Bauch, am unteren Rücken, am Gesäß und an den Oberschenkeln zeigt häufig Dehnungsstreifen.
Aufgrund der Bindegewebsschwäche der Unterhaut treten außerdem häufiger Hernien auf. Hernien sind sogenannte Weichteilbrüche, bei denen Gewebe aus dem Bauchraum durch schwaches oder lückenhaftes Bindegewebe in den Leistenraum eintritt (Leistenbruch) oder sich der Bauchnabel vorwölbt (Nabelbruch).
Symptome von Marfan Syndrom: Skelett und Gelenke
Beim Marfan Syndrom können vielfältige Fehlbildungen des Skelettsystems auftreten. Sehr oft schreiten diese Veränderungen in den Wachstumsphasen von Kindheit und Jugend rasch voran. Das übermäßige Wachstum der Rippen beispielsweise verursacht mitunter eine Trichterbrust oder Kielbrust.
Plattfüße, permanent verkrümmte Finger und zu tiefe Hüftpfannen, die zu verfrühter Abnutzung neigen, sind weitere Skelett-Fehlbildungen. Menschen mit MFS leiden zudem häufig an fortschreitender Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose).
Aufgrund der Bindegewebsveränderungen sind die Gelenke häufig nicht sehr fest und dadurch auch übermäßig beweglich. Das begünstigt Verschleißerscheinungen, die zu Arthrose führen.
Symptome von Marfan Syndrom: Herz und Blutgefäße
Menschen mit Marfan Syndrom haben häufig Herzklappenfehler. Weil die Klappen nicht vollständig schließen, fließt Blut in die Herzkammern zurück. Oft verursachen Herzklappenfehler über viele Jahre keine Beschwerden. Da sie sich in der Regel aber verschlimmern, führen sie letztlich oft zu Herzschwäche (Herzinsuffizienz), Herzmuskelentzündung (Endokarditis) oder Herzrhythmusstörungen (Arrhythmien).
Hauptschlagader (Aorta): Die beim Marfan Syndrom auftretenden Bindegewebsveränderungen führen über die Jahre häufig dazu, dass sich die Hauptschlagader erweitert und Aussackungen bildet. Mediziner bezeichnen das als aneurysmatische Erweiterung. Die Erweiterung bzw. die Aussackungen erhöhen das Risiko, dass die Gefäßwand der Hauptschlagader reißt. Reißt die Aortenwand vollständig (Aortendissektion), besteht akute Lebensgefahr, weil die Betroffenen innerhalb kürzester Zeit innerlich verbluten.
Ausführliche Informationen über Risse der Hauptschlagader lesen Sie in den Krankheitsbildern Aneurysma und Bauchaortenaneurysma.
Symptome von Marfan Syndrom: Lunge
Neben der Aorta kann bei Marfan Syndrom auch die große Lungenarterie erweitert sein. Das bleibt jedoch in der Regel symptomlos. In einigen Fällen entwickeln sich aber luftgefüllte Hohlräume in der Lunge, die zu einem spontan auftretenden Lungenkollaps (Einzelheiten: siehe Pneumothorax) führen können.
Symptome von Marfan Syndrom: Durale Ektasie
Unter duraler Ektasie verstehen Ärzte eine Dehnung der Bindegewebshülle der Wirbelsäule (Dura). Bei Menschen mit Marfan Syndrom kommt durale Ektasie häufig vor, da die Dura dem Druck der Flüssigkeit im Rückenmarkskanal (Spinalflüssigkeit) nachgibt. Das führt zu Verformungen der Wirbelkörper, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule. Mitunter kommt es durch eingeklemmte Nerven zu Rückenschmerzen, die in die Beine oder das Becken ausstrahlen.
Ursachen: Wie entsteht das Marfan-Syndrom?
Das Marfan Syndrom wird durch einen Gendefekt verursacht. Betroffen ist das Gen für Fibrillin-1, ein wichtiges Bindegewebsprotein (Funktionseiweiß). Durch den Gendefekt produzieren die Körperzellen Fibrillin-1 nur fehlerhaft. Deshalb kann das Eiweiß seine Funktionen im Körper nicht normal erfüllen.
Was ist Fibrillin-1?
Fibrillin-1 ist ein Bestandteil von sogenannten Mikrofibrillen. Mikrofibrillen sind faserartige Strukturen, die die Festigkeit des Bindegewebes wesentlich beeinflussen. Die Störung der Struktur und Funktion von Fibrillin-1 beim Marfan Syndrom führt zu der überall im Körper auftretenden Bindegewebsschwäche.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass Fibrillin-1 die Aktivität sogenannter Wachstumsfaktoren reguliert. Ohne die regulierende Wirkung von Fibrillin-1 teilen sich zahlreiche Zellen häufiger. Das würde das starke Wachstum von Körpergeweben bei Marfan Syndrom erklären.
Neben Fibrillin-1 gibt es zwei weitere im Bindegewebe vorkommende Fibrillin-Eiweiße, deren Aufbau und Funktion beim Marfan Syndrom aber nicht beeinträchtigt sind.
Wie wird das Marfan Syndrom vererbt?
Der Gendefekt beim Marfan Syndrom wird autosomal- dominant vererbt. Das bedeutet: Wenn ein Elternteil betroffen ist, besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass auch das Kind erkrankt. Umgekehrt bedeutet es: Nicht erkrankte Nachkommen von Menschen mit Marfan Syndrom tragen keine Kopie des fehlerhaften Gens in sich. Daher besteht auch kein Risiko, dass sie die Erkrankung weitervererben.
Untersuchung: Wie wird das Marfan Syndrom diagnostiziert?
Das Marfan Syndrom wird anhand seiner Symptome diagnostiziert. Erkrankungsfälle in der Familie stützen den Verdacht. Oft ist der Kinderarzt der erste Ansprechpartner. Andere Fachärzte werden hinzugezogen: Kardiologen, Orthopäden, Augenärzte und Humangenetiker beispielsweise.
Da die Symptome stark variieren und anderen Bindegewebserkrankungen ähneln, ist eine Reihe von Untersuchungen notwendig, um das Marfan Syndrom zu diagnostizieren. Dazu gehören eine vollständige Untersuchung des Skeletts, ein Elektrokardiogramm (EKG, Herzuntersuchung), Computer-Tomografien (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) und Ultraschalluntersuchungen (Doppler-Sonografie) von Blutgefäßen und Organen sowie ein Echokardiogramm des Herzens und eine Untersuchung der Augen.
Gewissheit schafft schließlich ein Gentest, mit dem das krankhaft verändert Fibrillin-1-Gen nachgewiesen werden kann.
Behandlung
Das Marfan Syndrom ist nicht heilbar: Es gibt keine Behandlung, um die fehlerhafte Funktion des Fibrillin-1-Gens zu korrigieren. Die Behandlung von Marfan Syndrom wird daher darauf zugeschnitten, die individuellen Symptome bestmöglich zu lindern. Das ist eine komplexe Aufgabe, die in der Regel die koordinierte Betreuung durch ein spezialisiertes Team von Chirurgen, Herzspezialisten, Kieferorthopäden, Augenärzten, Orthopäden und Physiotherapeuten erfordert.
Welcher Arzt bei Marfan Syndrom?
Idealerweise erfolgt die Behandlung in einem auf das Marfan Syndrom spezialisierten Klinikum. Allerdings gibt es nur wenige dieser Zentren, meist an Unikliniken. Hier finden Sie eine Liste der Marfan-Sprechstunden in Deutschland.
Behandlung bei Herzproblemen
Herz-Kreislauf-Medikamente wie Betablocker und Sartane (Angiotensinrezeptorblocker) werden bei Marfan Syndrom eingesetzt, um die Schlagfrequenz des Herzens und den Blutdruck zu verringern und dadurch die Belastung der Aortenwände zu reduzieren. Diese Behandlung sollte möglichst direkt nach der Diagnose des Marfan Syndroms begonnen werden, um eine Ausweitung der Aorta zu verlangsamen.
Operationen an Aorta und Herzklappen: Wenn die Aorta sich besonders stark oder besonders schnell erweitert, empfehlen Marfan-Experten vorbeugende Operationen: Bei einem chirurgischen Eingriff an der Aorta werden die ausgesackten Teile der Hauptschlagader entfernt und durch künstliches Gewebe ersetzt. Auch schlecht schließende Herzklappen können chirurgisch repariert bzw. ersetzt werden.
Zur Vorbeugung von Herzentzündungen (Endokarditis) empfehlen viele Spezialisten, vor medizinischen Eingriffen wie zahnärztlichen Eingriffen, bei denen Bakterien in den Blutstrom gelangen können, prophylaktisch Antibiotika einzunehmen (Endokarditis-Prophylaxe).,
Behandlung bei Problemen mit dem Skelett
Eine Verkrümmung der Wirbelsäule kann in der Wachstumsphase durch ein angepasstes Skoliose-Korsett behandelt werden. Solch eine Orthese kann das Fortschreiten der Verkrümmung in manchen Fällen stoppen. Bei erheblicher Skoliose empfehlen Ärzte die chirurgische Begradigung der Wirbelsäule. Mehr über diesen Eingriff lesen Sie im Krankheitsbild Wirbelsäulenverkrümmung.
Trichterbrust und Kielbrust können ebenfalls chirurgisch korrigiert werden. Fußbeschwerden werden durch Senkfußeinlagen, Polster und Orthesen behandelt. Ausführliche Informationen dazu in den Krankheitsbildern Trichterbrust und Plattfuß.
Rückenschmerzen und andere Beschwerden des Bewegungsapparats können durch Physiotherapie und Osteopathie gelindert werden.
Behandlung der Augen
Die häufig erheblichen Sehschwächen in Zusammenhang mit dem Marfan Syndrom lassen sich durch Brillengläser oder Kontaktlinsen korrigieren. Um Verschlechterungen des Sehvermögens, Linsenverschiebungen, Grauen Star oder Glaukom (Grüner Star) möglichst früh zu erkennen, sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen (mindestens jährlich) der Augen notwendig.
Wenn sich Linsenverschiebungen nicht durch eine Sehhilfe korrigieren lassen oder die Augenlinse sich zu sehr eintrübt (Grauer Star), kann eine künstliche Augenlinse Abhilfe schaffen. Der Grüne Star (Glaukom) kann medikamentös oder chirurgisch behandelt werden.
Prognose
Ist das Marfan Syndrom tödlich?
Unbehandelt verläuft das Marfan Syndrom tödlich. Ohne Behandlung beträgt die Lebenserwartung maximal 40 bis 50 Jahre. Bei guter Therapie und regelmäßigen Kontrolluntersuchungen haben Menschen mit MFS eine nahezu normale Lebenserwartung. Das ist Ergebnis besserer Therapie-Optionen und eines besseren Krankheitsmanagements (insbesondere Kontrolluntersuchungen).
Noch in den 1970-er Jahren war die Lebenserwartung von Menschen mit Marfan Syndrom deutlich herabgesetzt. Erkrankte starben meist an Komplikationen im Zusammenhang mit der erweiterten Aorta.
Selbsthilfe
Leben mit dem Marfan Syndrom
Menschen mit Marfan Syndrom sollten Wettbewerbs- und Kontaktsportarten, schweres Heben und alle Arten von körperlicher Aktivität meiden, bei denen die Aorta durch erhöhte Herzfrequenz oder hohen Blutdruck belastet wird. Dadurch lässt sich die beim Marfan Syndrom zu erwartende Erweiterung der Aorta verlangsamen. Regelmäßige moderate körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung haben auch für Marfan-Patienten viele positive gesundheitliche Auswirkungen.
Viele Menschen mit Marfan Syndrom und deren Angehörige organisieren sich in Selbsthilfegruppen, in denen sie Informationen austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Diese Liste der Regionalsprecher der Marfan-Hilfe nennt Ansprechpartner, f alls Sie sich einer Selbsthilfegruppe anschließen wollen.
Autor: Charly Kahle (Medizin-Redakteur), fachliche Prüfung: Yvonne Jurkoweit (Ärztin)
Stand: 07.10.2022
- Bundesärztekammer: Patienteninformation Marfan Syndrom (PDF)
- Rare Diseases Database: Marfan Syndrome
- The Marfan Foundation: Knochen und Gelenke beim Marfan Syndrom
- The Marfan Foundation: Overview of Cardiac Management in Marfan Syndrome
- The Marfan Foundation: Overview of Ocular Management in Marfan Syndrome
- J.L. Murdoch et al.: Life Expectancy and Causes of Death in the Marfan Syndrome. In: New England Journal of Medicine (1972)
- R.E. Peyeritz: Marfan syndrome: improved clinical history results in expanded natural history. In: Genetics in Medicine (2019)