Angelman-Syndrom
Was ist das Angelman-Syndrom? Wie oft kommt es vor und wie erkannt man diese seltene genetisch bedingte Entwicklungsstörung? Hier lesen Sie mehr über das Angelman-Syndrom und darüber, welche therapeutische Unterstützung es gibt.
Synonyme
Happy-Puppet-Syndrome (veraltete Bezeichnung)
Was ist das Angelman-Syndrom?
Das Angelman-Syndrom (das Wort wird englisch ausgesprochen) ist eine seltene, genetisch bedingte neurologische Störung. Sie beeinträchtigt die geistigen und kommunikativen Fähigkeiten erheblich und schränkt auch die motorischen Fähigkeiten ein. Gleichzeitig erhöht das Angelman-Syndrom die Wahrscheinlichkeit für verschiedene Erkrankungen wie Epilepsie in der Kindheit.
Wie äußert sich das Angelman-Syndrom?
Das Angelman-Syndrom geht mit ausgeprägten Entwicklungsverzögerungen einher. Dazu zählen eine starke Lernbehinderung und ein sehr eingeschränkter Spracherwerb sowie Koordinations- und Bewegungsstörungen. Charakteristisch für das Angelman-Syndrom sind puppenhafte Gesichtszüge und die lebensfrohe, aktive und soziale Veranlagung. Auf andere wirken Menschen mit Angelman-Syndrom wegen ihrer Art und der für die Erkrankung typischen Gesichtszüge stets gut gelaunt.
Menschen mit Angelman-Syndrom bleiben lebenslang auf dem Entwicklungsstand eines etwa zwei- bis dreijährigen Kindes. Intensive Frühförderung erweitert die Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit. Etwa 90 Prozent der Kinder lernen Laufen. Der aktive Wortschatz von Menschen mit Angelman-Syndrom umfasst nur einige Worte. Wesentlich besser ausgeprägt ist das passive Sprachverständnis: Viele verstehen und schätzen einfache Kommunikation und lernen es, ihre Bedürfnisse auszudrücken, zum Beispiel durch Gebärdensprache - oder mit Hilfsmitteln wie laminierten Kärtchen oder einem Sprachcomputer erfolgreich zu kommunizieren.
Bezeichnung „Happy Puppet Syndrome“ veraltet
Das Angelman-Syndrom wurde 1965 von dem britischen Kinderarzt Harry Angelman erstmals beschrieben. Er benutzte den Begriff „Puppet Children“, also Puppenkinder. Später wurde daraus der mittlerweile wieder veraltete Begriff „Happy Puppet Syndrome“. Ende der 1980-er Jahre wurde die genetische Grundlage der Erkrankung nachgewiesen.
Häufigkeit
Angelman-Syndrom: Wie oft kommt es vor?
Das Angelman-Syndrom gehört zu den seltenen Erkrankungen. Die Genbesonderheit tritt bei einer von etwa 15.000 Geburten auf. In Deutschland leben etwa 5.000 Betroffene. Experten gehen allerdings von einer gewissen Dunkelziffer unerkannter Fälle aus. Beide Geschlechter sind mit etwa gleicher Häufigkeit betroffen.
Symptome: Wie erkennt man das Angelman-Syndrom?
Angelman-Kinder zeigen etwa ab einem Alter von sechs Monaten erste Entwicklungsverzögerungen. Im Folgenden werden die typischen motorischen Meilensteine durchweg verspätet erreicht. Im zweiten Lebensjahr fallen erhebliche Lernschwierigkeiten und der stark eingeschränkte Spracherwerb auf.
Das Angelman-Syndrom umfasst eine Vielzahl von Merkmalen, wobei nicht alle Betroffenen alle Symptome zeigen:
Motorik
- Unsicherer, breitbeiniger Gang, häufige Stürze
- Ruckartige Bewegungen der Gliedmaßen
- Allgemeine motorische Unbeholfenheit
- Laufen mit erhobenen Armen und eingeknickten Handgelenken
- Leichtes Zittern (Tremor) von Armen und Beinen
Verhalten
- Außergewöhnlich fröhliche Grundstimmung
- Wunsch nach viel Körperkontakt
- Häufiges, oft auch unmotiviertes Lächeln und Lachen
- Leicht erregbar, großer Bewegungsdrang (Hyperaktivität), der aber mit dem Alter etwas nachlässt
- Auffällige Mundmotorik: Nuckeln an der Zunge, Kauen, Zähneknirschen
- Großes Interesse für Wasser
- Oft stark gestörter Schlafrhythmus
Körperliche Symptome
Für das Angelman-Syndrom typisches Aussehen: vorspringender Unterkiefer, tief liegende Augen, großer Mund mit vorstehender Zunge und kleinen, weit auseinanderstehenden Zähnen. Bei Kindern ist die Familienähnlichkeit allerdings häufig viel deutlicher ausgeprägt als die durch die Erkrankung bedingten Gesichtszüge.
Häufiger auftretende Begleiterkrankungen oder Beeinträchtigungen
- Relativ kleiner Kopf (Mikrozephalie), flacher Hinterkopf
- Übermäßiger Speichelfluss
- Erhöhte Wärmeempfindlichkeit
- Sehr helle Haut und Augen aufgrund von Pigmentmangel (Hypopigmentierung)
- Epilepsie: Ab einem Alter von 1 bis 5 Jahren leiden viele Angelman-Kinder wiederholt an epileptischen Anfällen; mit der Pubertät tritt häufig Besserung ein.
- Schielen (Strabismus) und geringe Sehschärfe
- Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) in der Pubertät
- Refluxkrankheit (Sodbrennen)
- Verstopfung (Obstipation)
Angelman-Syndrom: Ursachen
Ursache des Angelman-Syndroms ist eine seltene genetische Veränderung in einem Gen namens UBE3A auf dem 15. Chromosom. Das Gen verschlüsselt den Bauplan für ein Enzym, das in den Körperzellen an der Beseitigung überschüssiger Eiweiße (Proteine) beteiligt ist. Bei rund 90 Prozent der Angelman-Syndrome kann die Genveränderung nachgewiesen werden. Bei etwa 10 Prozent der Fälle bleibt die Ursache allerdings ungeklärt.
Die Genveränderung wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht von einem Elternteil ererbt, sondern entsteht erst in der Eizelle. Genetische Tests der Eltern können daher keine zuverlässige Aussage zum Risiko des Angelman-Syndroms bei ihren Nachkommen liefern. Eltern, die bereits ein Kind mit Angelman-Syndrom haben, sollten dennoch eine genetische Beratung in Anspruch nehmen.
Wie entsteht das Angelman-Syndrom?
Jeder Mensch erbt von Mutter und Vater jeweils eine Version des UBE3A-Gens. In den meisten Körperzellen sind beide Versionen aktiv. In bestimmten Bereichen des Gehirns wird aber die väterliche Genvariante durch die sogenannte genomische Prägung (englisch Imprinting) stillgelegt. Dort kann das Enzym also nur nach dem Bauplan des von der Mutter ererbten Gens gebaut werden.
Beim Angelman-Syndrom ist nun in der Regel (etwa 85 Prozent der Fälle) das mütterliche Gen defekt: Meist fehlt es komplett, seltener ist ein Teil des Gens durch eine Mutation verändert. In einem kleinen Prozentsatz der Fälle entsteht das Angelman-Syndrom auf etwas andere Weise: Dann haben Betroffene entweder beide Chromosomen 15 vom Vater geerbt, und beide sind durch Imprinting stillgelegt, oder das mütterliche Gen wurde durch einen Fehler beim Imprinting ebenfalls inaktiviert. In allen Fällen fehlt das durch UBE3A kodierte Enzym in den betroffenen Gehirnregionen.
Prinzipiell ist es denkbar, die Inaktivierung des väterlichen Gens rückgängig zu machen. Auf dieser Idee basieren neuere Versuche, eine Gentherapie für das Angelman-Syndrom zu entwickeln.
Untersuchung
Die Ansprechpartner beim Verdacht auf das Angelman-Syndrom sind Kinderärzte. Nach einer genauen Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) erfolgt die Diagnose anhand der typischen Symptome sowie bestimmter Veränderungen der elektrischen Aktivität des Gehirns, die mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) gemessen werden.
Die für das Angelman-Syndrom verantwortliche genetische Veränderung lässt sich mithilfe genetischer Tests diagnostizieren, für die eine Blutprobe oder ein Abstrich der Mundschleimhaut erforderlich sind.
Angelman-Syndrom: Wann erkannt?
Säuglinge mit Angelman-Syndrom zeigen bei der Geburt oft keine oder nur wenige Auffälligkeiten. Trinkschwierigkeiten kommen vor, sind aber meist nicht sehr problematisch. Nach einigen Monaten fallen die ersten Entwicklungsverzögerungen auf, etwa beim Drehen und Robben. Da Entwicklungsverzögerungen bei Kindern zahlreiche Ursachen haben können und Angelman-Kinder einen sehr wachen Eindruck machen, wird die korrekte Diagnose oft erst im dritten bis siebenten Lebensjahr gestellt.
Behandlung des Angelman-Syndroms
Aktuell gibt es für das Angelman-Syndrom keine ursächliche Behandlung und keine Heilung.
Der körperliche Allgemeinzustand von Menschen mit Angelman-Syndrom ist in den meisten Fällen gut. Begleiterkrankungen werden so therapiert, wie das auch bei anderen Menschen mit diesen Erkrankungen geschieht.
Behandlung der Begleiterkrankungen bei Angelman-Syndrom
Bei Epilepsie helfen entsprechende Medikamente. Allerdings ist die Kontrolle der Epilepsie beim Angelman-Syndrom oft eine Herausforderung. Die Kombination mehrerer Wirkstoffe kann erforderlich sein, um das Anfallsleiden unter Kontrolle zu bringen. Eine zusätzliche Option zur begleitenden leitliniengerechten Behandlung von Epilepsie bei Kindern ist eine Ernährungsumstellung auf die sogenannte ketogene Ernährung, eine stark kohlenhydratarme und zuckerarme Ernährungsform.
- Schielen (Strabismus) kann durch eine Brille und Okklusionstherapie (zeitweises Abdecken eines Auges), eventuell auch durch eine Operation korrigiert werden.
- Wirbelsäulenverkrümmungen (Skoliose) wird physiotherapeutisch, orthopädisch und eventuell chirurgisch behandelt.
- Die Refluxkrankheit kann mit Prokinetika (Medikamente, die Magen- und Darmbewegungen fördern) therapiert werden. Bei ausgeprägtem Reflux hilft eine chirurgische Verengung des Speiseröhrenschließmuskels.
- Verstopfung wird mit einer angepassten Ernährung und Abführmitteln behandelt.
Die Behandlung der typischen Schlafprobleme kann mit verhaltensmodifizierender Therapie und strikten Schlafenszeit-Ritualen versucht werden. Medikamente können ebenfalls hilfreich sein. Als Alternative zu nebenwirkungsreichen Schlafmitteln kommt eventuell Melatonin (Hormon, das den Tag-Nacht-Rhythmus steuert) infrage. Zahlreiche Anregungen für das Einüben von Schlafritualen oder pflanzliche Schlafmittel finden Sie im umfassenden Ratgeber Gesunder Schlaf.
Frühförderung bei Angelman-Syndrom
Frühförderung ist für Angelman-Kinder von nicht zu überschätzender Bedeutung. Intensive Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie verbessern die motorischen sowie kommunikativen Fähigkeiten und helfen den Betroffenen, ihr Potenzial zu erreichen und ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern.
Wo finden Betroffene Unterstützung?
In München gibt es ein Fachzentrum für das Angelman-Syndrom, das umfassende Diagnostik, regelmäßige Konsultationen und umfassende Behandlung anbietet. Auch an den Universitätskliniken der größeren Städte gibt es meist Ansprechpartner, die mit dem Syndrom Erfahrung haben.
In Selbsthilfevereinen wie dem deutschen Angelman e.V. finden Angehörige Unterstützung und Austausch mit anderen Betroffenen.
Experimentelle Therapien für das Angelman-Syndrom
Einige Therapien zur Behandlung der Symptome sowie genmodifizierende Therapien zur ursächlichen Behandlung des Angelman-Syndroms werden derzeit (2021) erforscht.
Ziel der genmodifizierenden Therapien ist es, entweder die stillgelegte Kopie des UBEA3-Gens auf dem väterlichen Chromosom 15 zu reaktivieren oder ein funktionierendes UBEA3-Gen in das mütterliche Chromosom einzuschleusen. Gelingt dies, wäre es ein Durchbruch in der Behandlung des Angelman-Syndroms. Andere Studien untersuchen die Fähigkeit bestimmter Wirkstoffe, die Kommunikation zwischen den Nervenzellen des Gehirns zu verbessern.
Prognose: Ist das Angelman-Syndrom tödlich?
Menschen mit Angelman-Syndrom haben eine weitgehend normale Lebenserwartung.
Kinder können in der Regel eine heilpädagogische Schule besuchen. Erwachsene mit Angelman-Syndrom sind zu einem selbstständigen Leben nicht in der Lage. Häufig verfügen sie aber über ausreichende Alltagsfähigkeiten, um in einer intensiv betreuten therapeutischen Wohngemeinschaft leben zu können.
Autor: Ulrike Laitko, fachliche Prüfung: Yvonne Jurkoweit (Ärztin)
Stand: 28.06.2024
- Angelman Zentrum München
- Elternverein Angelman e.V.
- Rare Disease Database: Angelman-Syndrome
- Genetik
- Experimental Treatments for Angelman Syndrome